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Ein Leuchtturm für den gelungenen Strukturwandel

Guido Grohmann, Hauptgeschäftsführer des Bundesverbandes Schmuck und Uhren (BVSU), sieht Pforzheim für die Herausforderungen der Zukunft gut gewappnet. In der GZ Plus Pforzheim im Juni veröffentlichten wir Auszüge des Gesprächs. Hier nun der vollständige Text.

Viele sehen die Entwicklung der Stadt – insbesondere die Entwicklung der Einzelhandelsstruktur aber auch der Schmuckindustrie - eher negativ. Oder ist das Bild, das sich in der Gesamtsicht für Sie als Insider ergibt, differenzierter?

Guido Grohmann: Ich weiß nicht, ob man mich als wirklichen Pforzheimer Insider bezeichnen kann. Als echter „Pforzheimer Rassler“, der seinen Lebensmittelpunkt an einem anderen Ort hat und jede Woche zur Arbeit nach Pforzheim kommt, habe ich mir einen Blick von außen auf die Stadt bewahrt. Und das ist auch gut so. Ich bin tatsächlich vor fast 20 Jahren (im Jahr 2008) zum ersten Mal nach Pforzheim gekommen und habe die Einzelhandelsstruktur schon damals als problematisch empfunden. Daran hat sich leider nicht viel geändert. Mit Ereignissen wie jüngst der Schließung des Kaufhofs ist die Situation mit Sicherheit nicht besser geworden. In Bezug auf die Industriebetriebe habe ich jedoch ein vollständig anderes, sehr positives Bild. Als ich meine Arbeit im Jahr 2017 in Pforzheim angetreten habe, feierte die Stadt Pforzheim den 250. Geburtstag der Schmuckindustrie. Auf der für dieses Ereignis eigens bereitgestellten Internetseite der Stadt konnte man schon auf der ersten Seite das nachlesen, was man auch heute als allgemeinen Tenor bei Gesprächen in der Stadt hören kann: „Pforzheim war mal groß im Schmuck, heute gibt es nur noch wenig, dafür haben wir jetzt Präzisionsindustrie.“ Auch wenn die Fakten nicht komplett falsch sind, war mir diese Darstellungsweise immer viel zu negativ. Ich bin der Meinung, dass die Stadt Pforzheim auf seine Industriegeschichte von 1767 bis heute sehr stolz sein kann. Pforzheim ist für mich ein Leuchtturm für gelungenen Strukturwandel und sollte sich als Vorbild diesbezüglich begreifen. Die Massenproduktion von Schmuck konnte bei fortschreitender Globalisierung langfristig gar nicht überleben, sie ist wie in vielen produzierenden Gewerben der Abwanderung in Billiglohnländer zum Opfer geworden. Was Pforzheim allerdings daraus gemacht hat, ist fast schon einzigartig. Die hier angesiedelten, verschiedenen Anwendungsfelder der Präzisionstechnik, von Schmuck und Uhren, über Medizin- und Dentaltechnik und die Automobilzulieferer bis hin zu Teilbereichen der Luft- und Raumfahrttechnik machen Pforzheim nicht nur heute zu einem starken Industriestandort, sondern sorgen mit gelebter Innovationsfreude auch für Zukunftssicherheit. Und das gilt auch für die Schmuckindustrie von heute. Neben den teilweise weltbekannten Marken aus Pforzheim setzen viele globale Marken aus Frankreich, USA und vielen weiteren Ländern auf produzierten Schmuck oder Zulieferteile aus der Goldstadt und verkaufen diesen dann unter ihrem Markennamen. Das ist in dieser Quantität schon sehr beeindruckend. Pforzheim steht wirtschaftlich für Innovation, Anpassungsfähigkeit und qualitativ hochwertige Produktion. Es wird nur zu wenig darüber geredet.

Wo sehen Sie zukunftsträchtige Entwicklungen insbesondere in der Schmuckindustrie?

Wir sind überall dort gut aufgestellt und haben einen Vorsprung gegenüber anderen, wo wir es schaffen, die kontinuierliche Weitergabe unserer traditionellen Handwerkstechniken mit den Möglichkeiten der digitalen Welt in der Produktion verbinden. So entstehen hoch komplexe, qualitativ hochwertige Schmuckstücke, die Ihren handgemachten Charakter bewahren und dennoch Möglichkeiten bieten, die ohne komplexe Fertigungstechniken nicht möglich wären.

Die Uhrenindustrie scheint in Pforzheim nur noch schwach zu ticken, oder?

Es gibt hier noch einige wenige, jedoch sehr beständige Uhrenmarken und vor allem im Zulieferbereich ein paar echte Hidden Champions. Aber ja, die Uhrenindustrie ist nur noch schwach vorhanden. Man muss bedenken, dass Pforzheim nach der Quarzkrise in den 1980er Jahren nie die finanzielle Unterstützung bekommen hat, welche der damals ebenfalls insolventen, Schweizer Uhrenindustrie zuteil wurde. Für die Schweiz war die Uhrenindustrie eine Schlüsselbranche, die es mit allen Mitteln zu retten galt. Diese Chance haben die Pforzheimer Betriebe nicht bekommen. Und sie haben auch nicht auf die öffentlichen Mittel zurückgreifen können, die im Zuge des Aufbau Ost an den Standort Glashütte in Sachsen geflossen sind.

Was ist nach wie vor der USP der Pforzheimer Schmuck- und Uhrenindustrie gegenüber anderen Branchenstandorten?

Pforzheim kann kein „günstig“ mehr, Pforzheim kann aber qualitativ hochwertigen Echtschmuck in einer Art und Weise produzieren, wie das nur wenige andere Branchenzentren in der Welt schaffen. Und dabei ist ein Vorteil, das große Teile der Wertschöpfungskette direkt vor Ort sitzen. Und Pforzheim produziert nicht nur Made in Pforzheim, sondern damit eben auch Made in Germany, ein Qualitätsversprechen, das für meinen Geschmack viel zu wenig in unserer Branche genutzt wird.

Inwieweit unterstützt der BVSU die Branche bei der Entwicklung?

Als Wirtschaftsfachverband können wir helfen, die Rahmenbedingungen der Branche im Sinne unserer Mitglieder mitzugestalten. Z.B. haben wir gerade dabei helfen können, die Ausbildungsberufe für Goldschmiede und Edelsteinfasser neu zu ordnen. Ab August 2025 kann so nun mit modernisierten Lehrplänen ausgebildet werden. Darüber hinaus können wir unseren Mitgliedsunternehmen bei ganz konkreten Fragestellungen mit unseren Serviceangeboten helfen. Auskunft und Information bei fachlichen und rechtlichen Fragen ist eine Dienstleistung, die von unseren Mitgliedern täglich und ausgiebig genutzt wird. Die Bereitstellung unseres Netzwerkes in Wirtschaft und Politik für die Mitglieder ist aber mit Sicherheit die wertvollste Ressource, die wir bereitstellen können. Sich zu vernetzen und miteinander über fachliche Themen in Kontakt zu kommen ist in der heutigen Wirtschaft unerlässlich. Und dabei können wir Verbände helfen wie niemand sonst.

Die Welt ist im Umbruch: Krieg in der Ukraine, gestörte Lieferketten, Zollchaos dank Trump, wirtschaftliche Unsicherheit, überbordende Bürokratie, das Vordrängen von Synthesen, KI bei Kreation und Marketing…etc. Wo sehen Sie derzeit die größten Herausforderungen und auch Chancen?

Die größte Herausforderung ist die seit den Corona-Jahren sehr unstete politische und wirtschaftliche Lage, die stetig aufs Neue Märkte verschiebt, Stimmungen schwanken lässt und Unsicherheit verbreitet. Auf diese allgemeine Stimmungslage werden wir uns in den nächsten Jahren weiterhin einstellen müssen. Chancen sehe ich vor allem in der Umsetzungskraft der deutschen Industrie, auch in unserer Branche. Deutschland hat in der Forschung zur Künstlichen Intelligenz den Anschluss an die großen Player verloren, in der Anwendung der Techniken und der Entwicklung von Geschäftsmodellen können wir jedoch weiterhin aus einer Spitzenposition agieren. Dies vereinen wir mit einem Bewusstsein für Qualität und Tradition, welches uns gerade im Schmuck einen langfristigen Vorteil verschaffen kann.

Wo sehen Sie den Schmuck- und Uhrenstandort Pforzheim in zehn Jahren? Was meinen Sie, werden die tragfähigen Konzepte der Zukunft sein?

Pforzheim ist seit über 250 Jahren ein Spitzenstandort der Präzisionstechnik, ausgehend von der traditionellen Schmuckindustrie diversifiziert sich das Anwendungsportfolio heute neben dem Schmuck in viele moderne und komplexe Produkte. Die Konzentration auf Metall und moderne Werkstoffe wie bspw. Karbon und Keramik und das Wissen um die Verarbeitung macht den Standort zukunftssicher. Ich mache mir aus rein wirtschaftlicher Sicht keine Sorgen. Es werden die Unternehmen besonders erfolgreich sein, die mit ihren Fähigkeiten mehrere Märkte bearbeiten können und sich eben nicht auf ein einziges Anwendungsfeld oder Produkt konzentrieren. Das gilt für Schmuck und alle anderen möglichen Produkte. Nachholbedarf besteht allerdings im gesellschaftlichen Miteinander. In Pforzheim kamen schon immer Leute aus unterschiedlichen Regionen und Kulturen zusammen, um gemeinsam an Produkten und Lösungen zu arbeiten. Hierzu benötigt es gesellschaftliche Integrationsleistung, die im Pforzheim von heute einen schweren Stand hat. Wenn Pforzheim diese Probleme in den Griff bekommt, ist es auf einen sehr guten Weg.

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